Memorandum

Der Amazonas brennt, seit Wochen. Andere Wälder der Welt brennen auch, seit Monaten gar Jahren. Ich habe es erst vorgestern mitgekriegt.
Ich lese jeden Tag mindestens drei “Zeitungsquellen”, in unterschiedlichsten Sprachen wohlgemerkt, und ich habe es dann erst so spät auf Instagram mitbekommen. Es ist ist wohl keine wertvolle Neuigkeit gewesen, denn Eure Kinder werden keine Luft zum atmen brauchen. Sie werden schon mit Rindfleisch, Kaffee und all dem Rest was man aus der Fläche machen wird zufrieden sein. Oder?

Eure Kinder werden wohl genug Fleisch im Bauch und genug Koffein im System haben, um für die Paar glücklichen, die es sich leisten werden eine Gegend zu bewohnen, die noch gute Luft zum atmen hat, zu arbeiten, sodass diese ein gutes Leben führen. Nichts Neues. 

Oder doch? 

Gestern bin ich zu weiteren traurigen Neuigkeiten aufgewacht. Mein Opa ist gestorben. Er starb im Schlaf, das war gut. Ist 86 geworden. Ein langes Leben habe ich mir von links und rechts sagen lassen müssen…
Ja, ein langes Leben… nach den Kriterien von heute… nach denen von gestern und von mir zu kurz. Nach denen für morgen wahrscheinlich viel zu lang (oder ich liege völlig falsch und doch zu kurz, aber zuerst bin ich, bis mir was Anderes gezeigt wird, pessimistisch).
Mal sehen, mein Buiu, denn so haben wir, ich und meine Geschwistern, ihn so genannt, hat ein langes Leben hinter sich gehabt. 

Allerdings…

Die letzten 17 Jahre dieses Lebens hat er ohne die Liebe seines Lebens verbracht: meine Oma. Sie ist viel zu früh an Krebs gestorben, an der Sorte Krebs, die es nicht geben hätte sollte – die Tschernobyl-Wolke war wohl perfekt gereist, die Nähe zum Reaktor zu klein. Das ist aber die schmerzhafteste Geschichte, die ich vielleicht irgendwann mal (nie?) erzählen werde. Mindestens 20 Jahre hat er mit Schmerzen wegen seiner Prostata verbracht. Und das sind die Schmerzen, die ihm die letzten Jahren aktiv begleitet haben, denn es gibt viel mehr. Wer rechnen kann weiß, dass er ‘45 fast ein Teenager war. Ein Teeny und schon der widerlichste Krieg aller Zeiten hinter sich zu haben würde doch reichen, oder? Falsch.
Ein Teenager und ohne Vater (wegen der paar verzweifelten Nazis, die sich am Ende des Krieges aus Flugzeugen in die Gegend seines Dorfes katapultierten) zu sein ist schlimmer.

Nazis, Kriegsende?

Der Vater ist zwar aus dem Krieg zurückgekehrt, allerdings sind er und die paar wenigen zurückgekehrten Männern aus dem Dorf mit nichts anderem als Heu- und Mistgabeln losgegangen um ihr Dorf zu schützen, als die Nazis wieder kamen. Das Resultat kann sich wohl jeder denken. Ein weiteres Waisenkind.
Ein paar weiteren Winter später, hat er beim Holzschneiden ein Auge verloren.

Ein langes Leben…

Seine Zeit unter dem kommunistischen Regime ist für mich ein unbekanntes Loch. Er hat nie darüber gesprochen und ich habe auch nicht nachgefragt. Es war nicht schön, für die meisten im Lande. Also bohrte ich bei ihm nicht nach.

Ein langes Leben…

Er hat meine Oma geheiratet, drei Kinder gehabt und aufgezogen, so positiv wie sie wohl nur konnten (ich kann hier nicht für meine Mutter, Tante und Onkel sprechen). Er hatte viele Enkelkinder, die er und meine Oma nicht nur im Sommer bei sich hatten, und ihn anscheinend ständig irritierten, weil sie faul waren und nie auf dem Hof mit den Tieren usw. helfen wollten. Denn das Klettern, Spielen, Lesen, Kämpfen war spannender für sie alle.
Abends (und nicht nur) hat er diesen Kindern zusammen mit meiner Oma solange Geschichten erzählt bis sie einschliefen, sodass sie – während er und Omi schon um 5 Uhr morgens aufstanden – bis weit nach 8-9 Uhr am nächsten Tag schlafen konnten und er dann wieder den ganzen Tag “grummelnd” durch die Gegend lief, weil keiner mithalf und lieber spielte oder las.

Von ihm habe ich gelernt, dass die Natur und Pflanzen wichtig sind. Er ist derjenige, der mir beigebracht hat, wofür Kamillen-, Linden- und Akazienblüten gut sind, welche Pilze essbar sind und welche nicht, dass Karotten am besten schmecken, wenn man sie frisch aus der Erde zieht, kurz reinigt und einfach isst. Er hat mir immer auf die vielen Wunden, die ich mir jeden Tag holte, eine selbstgemachte Salbe mit Zichorie (u.a.) geschmiert und noch so Vieles mehr, dem ich mir vermutlich noch nicht mal bewusst bin, beigebracht.

Ein langes Leben…

Der Amazonas brennt…

Kinder werden weiterhin geboren… Wie lange werden sie leben, und wie?
Die Probleme von gestern sind immernoch da, die von Morgen werden gerade gebacken… Aber Kaffee, Soja und Rindfleisch könnten sie wohl damit genug haben?

Der Amazonas brennt… Mein Opa hat nun seine Ruhe und die Welt macht weiter wie bisher. 

Traurig.