Lieber Mensch,
das ist meine Geschichte.
Sie begann im Frühling, irgendwann mal Anfang bis Mitte April, als meine Eltern sich kennengelernt haben und entschieden haben zusammen ein Nest zu bauen. Gesagt, getan. Ein warmes, windgeschütztes Plätzchen musste her!
Da sie in den Monaten zuvor unabhängig voneinander hin und wieder mal dieses eine Örtchen beobachtet haben, und weil sie diese komischen Riesen kannten, die hin und wieder mal in den Bäumchen und im Gebüsch so komisch aussehenden, aber sowas von lecker-schmeckende Bällchen aufhingen, und weil heuer das Wetter wirklich sehr kalt und regnerisch war, entschieden sich meine Eltern in einem diesen Kästen, die mit Grünzeug befüllt waren, das Nest zu bauen. Ich meine, das Örtchen ist wirklich toll ausgesucht worden, kein Wind und kein Regen erreichte uns!
Am Anfang, skeptisch und ängstlich, haben sie gedacht, dass die Riesen sie verjagen werden, aber von den Riesen war eine Weile irgendwie gar nichts zu sehen, deswegen haben Mama und Papa das Nest einfach gebaut.
So sehr sich Mama und Papa auch mit dem Brüten bemüht haben ist es wirklich sehr kalt gewesen. Deswegen sind nur zwei aus fünf Eiern geschlüpft: ich und mein kleiner Bruder.
Mama und Papa haben sich ständig um uns gekümmert. Die Riesen sind irgendwann auch wieder da gewesen. Papa sagte Mama, dass er was vom Urlaub gehört hat. Was auch immer das bedeutet.
Nun gut.
Natürlich haben sie uns entdeckt. Öfters sah man sie unten rumfummeln. Der eine haarige hat hin und wieder so einen komischen Stab in die Luft gehalten. Was auch immer er damit gemacht hat… Nein, es war nicht schlimm für uns, eher unterhaltsam, er tat das auch immer, wenn Mama und Papa nicht da waren. Komischer Riese.
Eines Tages sagte Papa, dass es mal an die Zeit wäre uns mal umzuschauen. Ich fand es super, weil ich, um ehrlich zu sein, mich schon langweilte, so sprang ich einfach aus dem Nest. Erstmal hab ich mir mal das Grünzeug, was die Riesen in dem Kasten vor dem Nest gepflanzt haben, angeschaut. Probiert hab ichs auch. Nicht so mein Ding. Ich bleib lieber beim Würmerfressen. Als ich damit fertig war, so ungefähr nach zehn Minuten, habe ich mich getraut runter zu springen. Ja, da unten, wo die Riesen hin und wieder mal faulenzen. Sie waren ja gerade nicht da. Mein kleiner Bruder war ja nicht so entzückt von der Idee zu springen, er wollte lieber noch im Nest bleiben. Naja, er ist ja auch etwas jünger als ich. Allerdings hat er sich nach einer Weile angefangen zu langweilen, so alleine ohne mich, und so ist er auch gesprungen…
So geschickt wie ich war er dann aber doch nicht, denn er ist unselig gestürzt und hat sich das rechte Bein und den Flügel gebrochen. Mama war soooo sauer auf Papa, und sie sagte ihm, dass wir doch noch viel zu jung dafür waren und er uns nicht hätte stressen sollen. Papa sagte ihr, es sei nichts passiert und wir werden nach ein paar Tagen beide rum fliegen!
Die Riesen haben uns auch schnell bemerkt. Sie sind nicht nach draußen gekommen aber wir konnten sie beobachten, wenn sie das komische Ding vor dem Fenster immer hoch und runter zogen. Mein Bruder hatte auch am nächsten Tag schmerzen. Mama und Papa haben uns weiterhin Essen gebracht und versucht, uns davon zu überreden, rum zu klettern und nochmal zu springen. Diesmal ins Grüne, sagte Papa, wo es fette Würmer gibt und wir sie einfach selber finden könnten. Ich habe ihm gesagt ich bleibe lieber bei meinem Bruder, dem ging es wirklich nicht so gut. Er hat sich ständig an das Tuch gekuschelt, das die Riesen ihm nach draußen gelegt hatte, in der nähe ihrer Tür, wo es doch wärmer war. Er schlief lange zwischen den Fütterungen, und ich langweilte mich sehr aber ich wollte ihn nicht alleine lassen. Die Riesen schauten nun auch öfters nach. Papa und Mama waren sehr gestresst. Eines morgens sagte Papa dann doch, es wäre Zeit für mich zu springen, denn ich wäre nun groß und stark und müsste das Jagen und Fliegen lernen. Ich musste auf ihn hören und springen, obwohl ich mir wirklich sorgen um meinem Bruder machte. So blieb er alleine zurück, aber meine Elter haben mir versprochen, dass sie in regelmäßigen Abständen nach ihm schauen und ihm Essen bringen. Ich habe sogar angefangen die fettesten Würmer für ihn mit zu suchen!
Papa sagte irgendwann Mama, dass "sie" (eine diese Riesen war wohl eine sie) nun öfters da ist und sich umschaut. Er sagte ihr, dass er sich nicht so sicher ist, ob es meinem Bruder besser geht. Mama nickte traurig und sagte ihm, er soll sich keine Sorgen machen, denn die Riesen tun nichts. Sie haben ihm doch das Tuch rausgestellt.
Am selben Tag am Nachmittag kam auch der zweite Riese dazu und schauten sich öfters mal um. Irgendwann mal haben sie meinen Bruder dann von seinem Platz in ihren riesigen Pranken geholt und sind mit ihm zusammen in ihr Nest verschwunden. Mama und Papa haben wahnsinnig rumgeschrien und haben versucht sie mit ihren Krallen zu kratzen, doch es hat nichts gebracht. Wir sind fast vor Sorge gestorben, mein süßer kleiner Bruder war plötzlich verschwunden!
“Riesen sind doofe gemeine Wesen!” habe ich mir gedachte. Wir haben immer wieder die nächsten Tage nach ihm gesucht und gerufen, aber er war nicht mehr da. Die Riesen sind am Abend zurück gekommen und standen einfach da auf ihren Balkon und schauten zu uns. Papa und Mama waren ständig laut am schimpfen und wollten einfach nicht zuhören, dass sie, die Riesen, ihnen etwas sagten. Ich habe ihnen einfach zugehört und sie sagten, dass mein Bruder nun beim Arzt wäre und es ihm bald schon wieder besser gehen wird. Ich weiß zwar nicht was ein Arzt ist, aber dass es ihm besser gehen wird hat mich gefreut. Ich habe auch gewartet bis Mama und Papa sich beruhigt haben, und habe ihnen dann auch erzählt, was die Riesen sagten. Sie waren trotzdem traurig und schimpften auf die Riesen los sobald sie sie sahen.
Die Riesen sind nach ein paar Tagen wieder auf dem Balkon gewesen und sagten mal wieder in unseren Richtung, es ginge ihm viel besser, und dass er dann bald ins Tierheim kommen wird, wo er das jagen und fliegen lernen wird, und dann auch wieder zu uns kommen könnte.
Als ich es meiner Tante erzählte sagte sie, dass sie ganz genau weiß, wo das Tierheim ist und wir bald nach meinem Bruder schauen könnten. Ich habe mich sehr gefreut.
Mama sagte dann auch Papa, dass sie recht gehabt hatte und sie (die Menschen) nichts böses machen wollten. So sind wir bald zu viert mit meiner Tante zum Tierheim geflattert und haben geduldig auf mein Brüderchen gewartet. Er kam auch bald raus und erkannt hat er uns auch sofort. Wir sind natürlich in der Nähe des Tierheims geblieben. Flattern gemeinsam durch die Gegend und fressen den ganzen Tag fette Würmer. Natürlich kriegt mein Bruder immer die fettesten. Er ist immer noch etwas kleiner als ich, aber er kann schneller fliegen. Ich bin schon neidisch, aber ich gönne es ihm!
So lieber Mensch, ja du der das hier liest. Danke, dass du uns sein lässt, dass du uns im Winter die gut schmeckenden Bällchen raus stellst, und dass du uns beobachtest und uns zum Arzt – jetzt weiß ich auch was ein Arzt ist – bringst, wenn es uns mal schlechter geht.
Ich, Amsel.