Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft

Ein Buch, wie ich noch nie gelesen habe. Ein stiller Zeuge und Wiedergeber eines Bruchteils dessen was die Menschen in dem Gebiet durchmachen mussten. So schwer und herzzerreißend es für mich war das Buch zu lesen, um so schwerer fällt es mir persönlich nun darüber zu schreiben. Was kann/könnte man eigentlich zur Geschichte hinzufügen? Fragt sich womöglich jeder heute. Nichts, denn alles was man dazu schreiben würde, vorallem als Außenstehender, wäre einfach nur purer Hypokrisie. Denn jeder von uns, der nicht vor Ort war, kann sich das Geschehen bis zu einem gewissen Punkt zwar vorstellen, aber das war dann auch alles, nur Vorstellungskraft. Den Schmerz und die Zerrissenheit muss man erlebt haben. Und das haben wir, die Außenstehenden, nicht. Deswegen ist das Buch da.

Sie, die Autorin, mischt sich nicht ein. Sie lässt sprechen, sogar sich selbst.

Das Geschriebene soll die Stimme der Menschen, die in der Nähe des Reaktors gewohnt haben, der Liquidatoren, der Frauen der Liquidatoren, die Stimme aller die an der “Bereinigung” der Katastrophe in irgendeiner Weise teilgenommen haben, sein. Es sind Stimmen von Menschen, die Grauenhaftes erlebt haben. Stimmen von Menschen, die nach dem Vergehen der Zeit immernoch eine Verzweiflung mit sich tragen, Menschen, wie wir, die einfach von einem (bestimmten) Leben geträumt haben, das aber von ihnen gestohlen wurde. Menschen, die immer noch nicht verstehen was wie passiert ist, manche durch ihre Einfachheit (ich spreche hier über Laien, die kein Wissen über Radioaktivität besitzen) manche anderen, genau weil sie mehr und besser wissen und wussten. Wir, die anderen, sollten daraus lernen, wach werden, dagegen kämpfen, und so etwas nicht mehr erlauben. Es handelt sich dabei nicht um irgendeine fiktive Geschichte, die man als literarisches Werk entlausen könnte. Das Buch ist ja auch keine Gute-Nacht-Lektüre, die einem gefallen könnte oder nicht. Es ist ein Buch, das Menschen, die sonst nie eine Stimme hatten und hätten, die Möglichkeit gibt ein wenig gehört zu werden, sei es auch viel zu spät. Es sind kleine Geschichten dieser Menschen, die das Ganze besser konturiert. Und mit dem Ganzen soll nichts anders verstanden werden als die größte Katastrophe unserer Zeit. Ja, es ist ein Buch, das man fast ausschließlich mit Tränen in den Augen und Schluchzen lesen kann, und mit sehr sehr vielen Pausen, um sich wieder aufzuraffen. Nichtsdestotrotz ein Buch, das jeder von uns gelesen haben sollte. Ein Buch, das neue Horizonte eröffnet, einen Einblick in eine andere Kultur mit einer neuen, für viele unverständlichen, Art des Denkens und Lebens eröffnet, und doch gleichzeitig eine Fremdheit (teilweise eine Binnenfremdheit) schafft, mit der viele nicht zurecht kommen. Es ist ein geschriebener Zeuge dessen was sich jederzeit ereignen könnte, auch anderswo. Vielleicht doch näher als uns lieb ist.

“Doch der Mensch will darüber nicht nachdenken, weil er darüber noch nie nachgedacht hat, er versteckt sich hinter dem, was er kennt. Hinter der Vergangenheit. Selbst die Denkmäler für die Helden von Tschernobyl erinnern an Kriegsdenkmäler…” (Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. deutschsprachige Ausgabe 2011 Berlin Verlag in der Piper, S. 43) Sagt die Autorin in dem Interview mit sich selbst.