Automatismen und Individualismus

Seit zwei Jahren habe ich eine schöne Digitalkamera und seit sechs Monaten lerne ich mit dieser ohne jegliche Automatismen zu „spielen“.
Es ist wie im Leben. Vieles kennt man irgendwie, ohne es gelernt zu haben. So denkt man! Davor hat man aber etwas lernen müssen, die Grundlage muss immer vorhanden sein. Das Laufen lernen wir mit Hilfe der Eltern oder Großeltern, aber das Rennen? Lernen wir das Rennen auch? Oder tun wir es einfach so, irgendwann, weil wir uns vom Etwas schnell entfernen wollen? Manche fangen das Wegrennen als Spiel an. Das Kind, oder meinetwegen das Baby, das gerade vor meinen Augen von der Mama spielerisch wegrennt, macht das als Spiel. Oder kann man behaupten, dass es ihm beigebracht wird? Vielleicht lernt das Kind das Rennen aus der „Notwendigkeit“? In diesem Fall die Notwendigkeit, das Leben etwas peppiger zu gestalten. Natürlich gibt es noch andere Arten des Rennens, aber das ist ein anderes Thema.

Wir lernen das Sprechen und das grammatikalische Schreiben. Wir lernen wie Wörter aus Buchstaben zusammengefügt werden und wie diese dann, je nach Rechtschreibreform, korrekt geschrieben werden: mit doppeltem „s“ oder „ß“, zusammen oder getrennt. Weiter lernen wir, wie ein Satz aufgebaut wird: Subjekt-Prädikat-Objekt. Natürlich geht es einfacher (Halt! oder Es regnet.) aber auch komplizierter, viel komplizierter. Lesen sie doch mal einen germanistischen Text durch. All das lernt man in der Schule, und so sollte es mit der Zeit nicht mehr kompliziert sein, zumindest denkt man das.

Somit kommen wir wieder zur selben Frage: ist das Schreiben, das echte Schreiben, das Literarische, Gelerntes? Kann man lernen literarisch zu schreiben? Und wenn ja, wie weit? Kann man einem Computer das Schreiben beibringen? Ja, inzwischen schon. Erkennt das der Mensch dann nicht? Oder, eine andere interessantere Frage. Wieso sollte sich dann der Mensch noch die Mühe geben zu Schreiben? Wieso sollten wir uns die Mühe geben überhaupt irgendetwas zu tun? Etwas Neues zu lernen? Jemand Neuen kennen zu lernen? Kochen? Fahrradfahren? Singen? Das alles kann für uns erledigt werden. Naja, das Fahrradfahrer vielleicht noch nicht, aber bald. Wir haben ja schon Autos, die fast alleine fahren. Haben wir Hunger? Im Supermarkt gibt es fertiges Essen. Kaufen, in die Mikrowelle, die Pfanne oder den Backofen werfen und essen. Es ist doch simpel genug, oder? Ah ja, da war ja noch etwas das man Geschmack nennt. Nicht? Ja, stimmt, die Lebensmittelindustrie hat genug Arbeit geleistet, um unsere Geschmäcker anzugleichen. Ob Zucker oder Salz, alles schmeckt heut zu Tage gleich. Eben nach Zucker und Salz.

Was aber schlimm ist, ist dass das wenig Gelernte verlernt wird. „Lesen? Öch nö, ich kaufe mir lieber das Hörspiel“. Schreiben? Inzwischen kann man Romane vom Computer generieren lassen. Je nach Parameter und Genre wirft man vielleicht ein Paar Stichwörter in einen Pott hinein und der Computer schmeißt einem ein neues Meisterwerk heraus, das aber nicht mehr gelesen sondern gehört wird. Dabei ist unwichtig, ob der Sinn oder die Interpretation, Dinge die sehr individuell empfunden werden (können), verschwindet. Wir werden immer mehr zu einer einzigen Schafherde. Wir essen, tun, hören und määähen alle das Gleiche. Bloß nichts Eigenes und Kreatives machen und denken. Wir könnten sonst von einem Virus infiziert sein. Oder schlimmer, Terroristen sein.
Deswegen vegetieren wir dahin. Wir lassen die Kameras Jahre lang auf Automatik und knipsen uns durch die Welt. Wir machen Photos, die genauso aussehen wie die eines Anderen. Wir schreiben die gleichen, endlosen und leblosen Mails und Briefe. Gibt es überhaupt noch jemanden, der heutzutage Briefe schreibt? Abgesehen von einer lieben achtzigjährigen Oma, die trotz ihrer Sehschwäche dem Enkel einen Brief an Weihnachten und Ostern schreibt? Wenige? Nun ja, in ein Paar Jahren sind wir noch glatter gepresst.

Zurück zu meiner Kamera. Ja, ich benutze sie seit sechs Monaten in einem manuellen Modus.
Nicht alle meine Photos sind was geworden. Und es werden viele andere weiterhin nichts werden. Bei mir dauert es immer etwas länger ein Motiv zu photographieren. Ich brauche vielleicht zehn Minuten um ein Motiv zu verewigen (Ha! Hypokritisch eigentlich, die Aussage. Mit einem Klick ist das Photo heute schnell für immer gelöscht.), während andere es mit einem Klick schon haben und zwar viel besser als Ich, da sie eben vielleicht Glück gehabt haben und alles in der Automatik der Kamera mitgespielt hat, aber eben nur dann. Es dauert eben lange und wenn ich hundert Photos geschossen habe, gibt es oft, sehr oft keines darunter, das mir gefällt. Aber manchmal habe ich vielleicht auch Glück gehabt, nennen wir es einfach so, Glück, und ich habe ein Photo, das mir gefällt. Aber wie wäre es denn gewesen, wenn ich weiterhin die Kamera so benutzen würde wie davor, ohne jeglichen Gedanken darüber zu verlieren, wie sie funktioniert, welche Parameter ich für ein gutes Bild brauche? Könnte ich mich ohne dieses Grundwissen verbessern? Wohl kaum.
So müssen wir immer noch das grammatische Schreiben und das Laufen zu lernen, ohne die wir nicht Schreiben und Rennen könnten, weil lasst uns doch ehrlich sein: Das Laufen ist auf Dauer langweilig, man muss doch hin und wieder mal rennen. Ob vor Etwas oder Jemandem weg, oder irgendwo hin, ist recht egal. Weiterhin kann ein computergenerierter Roman irgendwie beim ersten mal Lesen – nicht Hören! – lustig sein, aber wer würde so etwas lebloses ein zweites Mal lesen wollen? Sie nicht? Ja super, dann gibt es noch Hoffnung!
Sie schon? Mein Beileid!